Die Welt war weiß, als ich vor die Haustür trat. Weißer Himmel, weiße Fassaden, weißer Bürgersteig. Schnee rieselte beständig in dünnen Flocken aus der Wolkenmasse über mir herab auf die Straße. Mit meinen Schuhen feine Spuren zeichnend lief ich durch den Park auf eine halbrunde Steinbank zu, die unter der großen Eiche stand. Deren Äste waren kahl, die Wurzeln, die aus der Erde ragten, von feinem Raureif bedeckt. Sie stand da wie ein friedlicher Riese, eingeschlafen unter all dem Weiß, als warte sie auf wenige wärmende Sonnenstrahlen oder einen kräftigen Windstoß, ein bisschen Widerstand also, gegen dieses trübsinnige Wetter. Das hatten wir gemeinsam, die Eiche und ich, und deswegen legte ich mich unter ihre Krone auf die Steinbank und leistete ihr beim Warten Gesellschaft. Ich musste tatsächlich eingeschlafen sein, denn als ich, nach vermeintlich kurzer Zeit, die Augen öffnete und mich aufsetzte, war es schon dunkel geworden. Der Himmel war nun klar; ein runder, weißer Mond schien durch die Äste der Eiche und ich musste plötzlich an meinen guten Freund denken, der nun, weite Meilen von mir entfernt, wahrscheinlich in seinem Bett lag und las. Er würde auf seinem Bauch liegen, vollkommen vertieft in eine vollkommene, vollkommen andere Welt. Ich beneidete ihn darum, dass er das so konnte. Wenn ich lese, verschwimmt die Welt um mich herum, aber sie verschwindet nie ganz, sondern bleibt als Schatten hinter mir, als schmale Erinnerung an die Wirklichkeit. In der Dunkelheit hier unter der Eiche bestand die ganze Welt aus Schatten. Ich schaute mich um. Mein guter Freund und ich, wir hatten schon länger nicht mehr miteinander gesprochen. Wir waren beide zu beschäftigt gewesen in letzter Zeit, denke ich, mit uns selbst. Und ich mit dem Schatten. Manchmal zieht er so an meiner Hülle, er will mich herausreißen, von der Lichtquelle trennen, die mich wärmt. Bebend flüstert er mir dann Worte zu, die mich erschaudern lassen und mich ganz klein machen, schrumpfen lassen, bis ich nur noch ein Staubkorn bin in dieser Welt. Er will, dass ich mich an ihm festhalte, wenn ich das Gefühl habe, den Halt zu verlieren. Ich weiß das, und habe es trotzdem einige Male getan. Manchmal bilde ich mir ein, dass die Eiche mich beschützen kann, wenn sie ihre Äste über mir ausbreitet. Mein guter Freund blickt ganz anders auf die Welt als ich, er sieht die Wunder und das Gute nah bei ihm, er fühlt sich sicher. Wenn ich ihn mir vorstelle, wie er so auf seinem Bett liegt und liest, dann schweben rosarote Wolken über seinen Kopf hinweg. Mein guter Freund tanzt zu der Musik, die er hört, ganz egal, wo er ist. Er schert sich nicht darum, was die Leute denken. Er ist da, aber doch woanders. Ich wäre gern mehr, wie er.
Auf dem Rückweg nach Hause tropfte der geschmolzene Schnee salzig auf meine Wangen. Ich konnte nicht viel sehen, die Welt verschwamm, nur die Schatten blieben da. Sie begleiteten mich bis zur Haustür, die Treppe hinauf, in die Wohnung und bis in mein Zimmer. Und als ich ins Bett ging, umarmten sie mich innig, bis ich nicht mehr schlafen konnte.
2 Antworten zu “Die Schatten unter der Eiche”
Ich mag Deinen Text, die Bilder darin, die, die Du beschreibst und die, die wohl Deine Seele manchmal in Dir malt. Bäume sind Beschützer, das bildest Du Dir keineswegs nur ein, liebe Katinka. Versuch‘ einmal einen großen von ihnen wirklich innig zu umarmen, dann wirst Du das spüren.
Ich wünsche Dir eine gute Nacht und lasse Dir ganz liebe Grüße hier!
Hab ich schon 😉 Als keiner hingeguckt hat. Im Wald fühle ich mich geborgen. 🙂
Danke Dir 🙂