Zwischen Haus Nummer 17 und Allee-Center


Der Typ, der mir gegenübersteht, ist nicht besonders groß. Er trägt eine Sonnenbrille und eine dunkelblaue Jacke. In der linken Hand hält er eine Flasche Bier. „Sie haben aber schöne Beine“, sagt er und kommt auf mich zu. Ich weiche zurück. Plötzlich bleibt er stehen. „Heil Hitler“, ruft er und hebt den rechten Arm. Er lacht. Ich sage gar nichts. Zwischen den Plattenbauten der Stuttgarter Allee ist Leipzig mir fremd.

Ich bin zum ersten Mal hier. Und ich habe nicht vor, wiederzukommen. Ich fühle mich unwohl – jetzt erst, außerhalb meiner Komfortzone (dem Leipziger Osten), begreife ich, dass ich einen großen Teil dieser Stadt und dessen Menschen gar nicht kenne. Wer lebt in den Wohnungen der umstehenden Hochhäuser? Wer verbringt seine freie Zeit auf diesem kleinen Marktplatz, hier, hinter dem Allee-Center?

„Der kommt aus Algerien“, erklärt mir ein älterer Mann in gelber Regenjacke und deutet auf den betrunkenen Nazi mit der Sonnenbrille. Nur, dass es kein Nazi ist. „Stiftet immer Unruhe und zettelt Schlägereien an.“ Der Mann mit der Regenjacke trinkt auch ein Bier, wie sein Bekannter neben ihm. Es ist drei Uhr, am Nachmittag. Ich frage, ob ich ein Foto machen darf. „Neee“, winken die beiden ab. Sie wollen nicht von ihren Arbeitgebern erkannt werden. Von hinten sei aber okay. Ich mache ein paar Aufnahmen und verabschiede mich. Eigentlich bin ich ja nur zum Fotografieren hier.

Ich fotografiere Haus Nummer 17, die Kippen auf der Treppe und den Sticker der „Jugendoffensive Leipzig“, den jemand an die Eingangstür gepappt hat (im Untertitel: Deutschland über alles, Leipzig erwache). Ich fotografiere eine ältere Dame mit Rollator, die auf der Stuttgarter Allee wohnt und mir erzählt, dass es bei ihr Zuhause immer mal laut werde – wie das eben so sei, in einem großen Haus. Ich fotografiere einen Mann, der ganz scharf darauf ist, fotografiert zu werden; die Frau, die neben dem Algerier auf der Mauer sitzt und einen Säugling im Arm hält und füttert; junge Männer, die mich verschmitzt angucken und sich über meine Arabisch-Kenntnisse freuen.

Und ich frage mich, warum ich mich dabei so unwohl fühle, unsicher bin, sogar ein bisschen ängstlich. Laut Innenministerium ist die Fußgängerzone der Stuttgarter Allee einer der gefährlichsten Orte in ganz Sachsen – Diebstahl, Raub, Körperverletzung.

Aber das ist es nicht, was mich stört. Vielmehr habe ich keinen Bezug zu diesem Ort und den Menschen hier – es fällt mir schwer, sie einzuschätzen. Ich merke, wie ich mich innerlich von ihnen distanziere, weil ich nicht hierher gehöre. Nicht hierher gehören will. Diese Gegend ist … unkultiviert, denke ich, weil mir kein besseres Wort einfällt. Grünau konfrontiert mich mit meinen eigenen Vorurteilen.

Zwei Jungs, vielleicht zwölf Jahre alt, laufen in Richtung Allee-Center an mir vorbei, als plötzlich einer der beiden über die Straße brüllt: „Der ist schwul. Du Hurensohn!“ Der Mann, der gemeint ist, trägt eine enge, schwarze Hose aus Kunstleder und einen Hut. Er reagiert nicht, aber die Kinder schimpfen weiter. „Halt’s Maul, du Arschloch, zu Stück Dreck“, schreit er dann zurück. Im Allee-Center treffe ich die Kinder wieder und frage nach dem Weg. Höflich beschreiben sie mir im Detail, wo ich langgehen soll. „Einen schönen Abend noch“, sagen sie.

Schließlich erreiche ich wieder den kleinen Marktplatz. Drei rauchende und trinkende Männer sitzen neben dem Springbrunnen und spielen Karten.
„Ach ja“, meint eine Frau, die ich anspreche, „das sind die Alkoholiker“.
„Aha“, sage ich. „Ich bin vom Kreuzer, dem Stadtmagazin – wir recherchieren gerade zu gefährlichen Orten in Leipzig.“
„Da sind Sie hier genau richtig. Da müssen Sie mal über diesen Platz hier schreiben.“ Sie erzählt, dass ihr Mann und ihre Kinder gerade einen Ausflug zum Spielplatz um die Ecke machen. Dort sei es besser als hier. Und überhaupt solle ich mal sechs Uhr abends wiederkommen, wenn es langsam dunkel wird. „Letztens gab es eine Messerstecherei auf der Brücke und ein Familienvater wurde verletzt“, sagt sie. „Sein Kind stand daneben.“

Ich spreche mit vielen Menschen an diesem Nachmittag, fast alle begegnen mir höflich. Zugänglich. Nur „die Alkoholiker“ weisen mich ab, ansonsten hat jeder etwas zu erzählen. Ich höre zu. Zwischen Haus Nummer 17 und Allee-Center leben die Menschen ein anderes Leben.


2 Antworten zu “Zwischen Haus Nummer 17 und Allee-Center”

  1. Ein sehr interessanter Bericht. Ich kenne ebenfalls Gegenden in meiner Heimatstadt Hannover, da fühle ich mich unwohl, habe teilweise sogar Angst und ja, da kann ich meine Vorurteile und Klischees pflegen. Und dann frage ich mich, ob es genauso anfängt? Dieses: der passt nicht zu mir in mein Weltbild. Dabei halte ich mich „normalerweise“ für einen offenen Menschen, der den Menschen und nicht die Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, größe des Portemonnais, Stand… etc. sieht.
    Nachdenkliche Grüße
    Nicole

  2. Beeindruckende Bilder und ein interessanter Bericht.
    Ich finde es gut, dass du dich mit der Frage beschäftigst, warum du dich unwohl gefühlt hast. Das regt mich selbst zum Nachdenken an.

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