An manchen Tagen fällt es mir schwer, das Blau des Himmels hinter all den Wolken zu sehen. Die Sonne scheint dann hell, aber sie wärmt mich nicht. Der Wind berührt sanft meine Haut, aber er lässt mich zittern. Ich ziehe meine Wanderschuhe an und laufe den Berg hinauf, in den Wald hinein. Ich stelle mir vor, hoch oben durch die grünen Blätter der Eichen zu schweben, dem Blau des Himmels entgegen. Bis ich es erkennen kann. Ich laufe weiter. Ein kleiner Vogel landet vor mir auf dem Weg. Und plötzlich knackt es laut, hinter mir. Ich drehe mich um, langsam. Da steht ein Mann. Er trägt einen Hut. Ich laufe weiter.
„Warte mal!“
Ich laufe weiter.
„Nun warte doch!“
Ich laufe weiter.
„Bitte, würdest du für einen Moment stehenbleiben?“
Ich bleibe stehen.
„Warum läufst du davon?“, fragt der Mann.
„Ich laufe nicht davon. Ich laufe einfach“, sage ich.
Der Mann zieht seine Augenbrauen hoch. Sie verschwinden unter der breiten Krempe seines Huts. Es sieht komisch aus.
„Also dann“, sagt er, „warum läufst du?“
„Ich laufe, damit ich nicht stehenbleibe“, sage ich und laufe weiter.
„Aha“, sagt der Mann und setzt sich ebenfalls in Bewegung. Schwerfällig atmend folgt er mir. Scheint nicht der Fitteste zu sein.
„Und …“, sagt der Mann.
„Und … was?“, frage ich. Genervt. Ein bisschen.
„Und warum willst du nicht stehenbleiben?“, fragt der Mann.
Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Und schweige.
„Nun?“
Kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
„Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, frage ich.
„Nein“, sagt der Mann, „das kann ich nicht“.
„Ich weiß es nicht“, sage ich. „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.“
„Wenn wir ein bisschen verweilen, fällt es dir vielleicht ein“, sagt der Mann und lässt sich ins feuchte Eichenlaub fallen.
Ich verziehe ungläubig das Gesicht. „Sie sind komisch.“
„Das tut mir leid“, sagt der Mann und setzt seinen Hut ab. Er streckt die Beine aus und schaut mich zufrieden an. „So eine Pause ab und zu erfüllt das Leben.“
„Wer Pause macht, der kann nicht mehr“, sage ich. Herausfordernd schaue ich zurück.
„Das kann schon sein“, sagt der Mann. „Ist es dir nun eingefallen?“
„Ich will nicht stehenbleiben, weil ich sonst verliere“, sage ich. Diesmal sagt der Mann nichts. Er betrachtet angestrengt den Hut in seinen Händen. Ich habe keine Geduld mehr und will gerade gehen, als er aufblickt. „Es ist nicht ratsam, nur zurückzublicken.“
„Meine Rede“, sage ich.
„Was verlierst du, wenn du stehenbleibst?“, fragt er mich.
„Zeit“, sage ich.
„Nein“, sagt er schlicht. „Nein. Du verlierst deine Angst.“
Ich will nicht, aber ich kann nicht anders. „Wovor?“, frage ich.
„Vor dem was war und vielleicht kommt“, sagt er.
Nein. „Ich kann nicht …“, sage ich.
„Doch“, sagt der Mann mit dem Hut, „du kannst. Sei mutig.“
Und ich bleibe stehen. Wirklich stehen. Die Welt dreht sich. Mein Herz klopft. Ich laufe nicht mehr.
„Wie fühlt es sich an?“, fragt der Mann.
„Hilfe“, flüstere ich.
„Spürst du es?“, fragt der Mann leise.
„Ja“, sage ich. Ich spüre die Sonne, sie wärmt mich. Ich spüre den Wind, er berührt sanft meine Haut. Ich sehe das Blau des Himmels.
6 Antworten zu “Von dem Mann mit dem Hut, der mir sagte, ich solle stehenbleiben.”
„‚Wenn jemand sucht‘, sagte Siddhartha, ‚dann geschieht es leicht, daß sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, daß er nichts zu finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur immer an das Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist. Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben. Du, Ehrwürdiger, bis vielleicht in der Tat ein Sucher, denn deinem Ziel nachstrebend, siehst du manches nicht, was nah vor deinen Augen steht.’“ (Herman Hesse, Siddhartha)
Ein starkes Gefühl, das Du in und zwischen die Zeilen knetest. Der dialogische Aufbau gefällt mir sehr gut. Freue mich auf mehr!
Das ist wunderschön! Danke dir (und danke Hermann Hesse). ♥
Es freut mich sehr, dass dir die kleine Geschichte gefällt 🙂
Liebe Katinka,
Zu Beginn fand ich den Text etwas gruselig: Mädchen allein im Wald, auf ein mal ist da ein Mann – creepy Kombination. Als ich dann aber den ganzen Text gelesen habe, habe ich total verstanden was du meinst. Ich finde es wunderbar, wie du es schaffst deine Gefühle, Ängste und Gedanken so in Worte zu verpacken. Die Bilder die du dazu ausgewählt hast sind ebenfalls wirklich zauberhaft schön! Du hast einfach ein gutes Auge für Fotografie.
Liebe Grüsse,
Sarah Marie von http://www.xoxsarahmariex.com
Liebe Sarah Marie,
dann habe ich mein Ziel ja erreicht 😉 Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand aus dem, was ich aufschreibe auch das herausliest, was ich meine. Vielen, vielen Dank! ♥
Herzliche Grüße zurück!!
Hast Du das selbst so erlebt, Katinka? – In mir wurden beim Lesen Deiner Geschichte zuznächst ganz andere Assoziationen, ja Befürchtungen, wach. Ein junges Mädchen allein im Wald, plötzlich von einem komisch anmutenden Mann angesprochen, noch dazu von hinten …
Da wäre mir auf die Frage , warum ich nicht stehenbleiben wolle, sofort eine Antwort eingefallen, die ich ihm hätte freeilich nicht sagen wollen: Unbehagen, der Wunsch, ihn loszuwerden, so hinter mir.
Deine Geschichte aber, geht (und zielt möglicherweise) in eine ganz andere Richtung. In ihr geht es um die Furcht vor dem Zurückbleiben, dem Verlieren und darum, dass darüber und in dem Wunsche, diesen Empfindungen entfliehen zu können, wichtige Ressourcen, der Sinn für Wahrnehmungen, die Kraft und Heilung bringen können, verloren geht. – Indem der Mann mit dem Hut Dich daran erinnert, wird er zum guten Geist.
So kann man sich, so kann ich mich irren. Aber die Realität unserer Welt gebiert leider vermehrt solche Irrtümer. Weil sie so ist, dass wir wachsam sein MÜSSEN.
Eine schöne Geschichte. Und sehr, sehr schöne Fotos wieder. Eins gefällt mir besser als das andere. Jedes einzelne mag ich gern ansehen, und kann mich in jedem sogar ein bisschen verlieren …
Viele liebe Grüße an Dich. Hab‘ einen nicht so stressigen Wochenstart! 🙂
Ich weiß nicht, wie du das machst, aber du liest aus meinen Texten das heraus, was ich selbst nicht klar in Worte fassen kann. Du liest nicht nur zwischen den Zeilen, du verstehst auch. Gute Geister gibt es viele, ich glaube, wir erkennen sie bloß nicht. Wir schauen nicht richtig hin. Wir bleiben nicht stehen, sondern laufen immer weiter und verlieren „wichtige Ressourcen … die Kraft und Heilung bringen können“.
Vielen, vielen Dank! ♥
Und einen ebenfalls entspannten Montag!