Ich sitze im Zug auf dem Weg nach Hause und versuche, mich zu entspannen. Leider sitzt, mir direkt gegenüber, das nervigste Paar Rentner, das die Welt je gesehen hat. Ich nenne sie einfach mal Ursula und Gerd. Bestimmt haben sie schon gemerkt, dass ich gerade gemeine Sachen über sie schreibe. Oder zumindest Ursula hat es gemerkt – sie ist ohne Zweifel diese Art von Frau, die einen sofort und durch die Brille mit ihrem Röntgenblick durchschaut. Bloß nicht direkt in die Augen sehen.
Gerd hat einen hohen Mitteilungsbedarf, weswegen ich von Beginn an überlegt hatte, zu flüchten. Leider ist der Zug ziemlich voll und leider habe ich es nicht gewagt. Glücklicherweise gibt es Youtube, diverse Videos mit Titeln wie: Natur Meditation – Regenwaldsounds, Entspannende Regengeräusche oder Meeresrauschen – Musik zum Einschlafen, und kostenloses WLAN im ICE. Auf Grund einer Signalstörung hat der Zug mindestens 15 Minuten Verspätung. Wir halten. Draußen wird ein Mann von mehreren Polizisten zum Ausgang geleitet. Ursula und Gerd haben ihre Stullen ausgepackt. Gerd fasst Ursula ans Kinn. Ursula schnappt mit ihren Zähnen nach ihm. Ich versuche, die beiden zu ignorieren und nicht lauthals loszulachen. Denn so anstrengend es auch ist, die Zugfahrt in Gesellschaft von Ursula und Gerd zu genießen, so witzig ist es, sie zu beobachten. Beobachten macht überhaupt großen Spaß, vor allem, wenn man unbeobachtet beobachten kann. So sitze ich zum Beispiel gerne auf der Arbeitsplatte in unserer WG-Küche (auch, weil ich das zu Hause niemals durfte), mit einem Glas Rotwein, dem Buch, das ich gerade lese und schaue immer wieder nach draußen in den Innenhof, bis es so dunkel ist, dass ich nun wirklich keinen Buchstaben mehr erkennen kann. Dann ziehe ich in mein Zimmer um und stelle das Glas Rotwein so auf mein Fensterbrett oder die Heizung, dass es garantiert umkippt, wenn ich die Kerze anzünden will. Nachdem also die weiße Tapete neben meinem Bett nicht mehr ganz so weiß ist, renne ich in die Küche um einen Lappen zu holen, wische alles auf, freue mich darüber, dass ich schon leicht beschwippst bin und schenke mir ein zweites Glas Rotwein ein. Das ich vorsichtshalber sofort in der Küche austrinke. Mein Papa hat übrigens vorgeschlagen, ich solle doch mit gelber Wasserfarbe Blümchen um die roten Spritzer malen. Leider hat sich der Rotwein eher flächig verteilt. Darauf wiederum mein Papa: Naja, das zeugt vom wilden WG-Leben. Wo er Recht hat, hat er Recht. Überhaupt: Voll das wilde Leben.
6 Antworten zu “Voll das wilde Leben : von Ursula, Gerd und Rotweinflecken”
[…] Voll das wilde Leben | Von Ursula, Gerd und Rotweinflecken […]
Och… Gerd… so heißt mein Tagebuch.. der ist ganz nett eigentlich. Ledig. Glaube ich – habe ihn nie gefragt… weiß eigentlich nicht über ihn. Nur, dass er mir gern zuhört.. sollte ihn mal nach seinem Leben fragen..
Mach mal! Ich bin gespannt, was er erzählt. 😉
Nice that you’re back
Thanks! I missed this 🙂
It is quite easy to describe, it is missing something, of course, because I wrote it so, nice that you there.