Was ging in ihrem Kopf vor? Es war wirklich zum Verzweifeln, dachte Mae, dieses Nichtwissen. Es war ein Affront, ein Entzug, ihr gegenüber und der Welt gegenüber. […] Sie musste dringend mit Annie reden, über die Gedanken, die sie dachte. Wieso sollten sie die nicht wissen? Die Welt hatte nichts Geringeres verdient und würde nicht warten. ¹
G E H E I M N I S S E S I N D L Ü G E N
T E I L E N I S T H E I L E N
A L L E S P R I V A T E I S T D I E B S T A H L
Als Mae eine Stelle im „Circle“, dem weltweit größten Internetkonzern bekommt, ist sie überglücklich. Die Arbeit wird ihr Leben und mit der Zeit begreift sie, um was es wirklich geht: völlige Transparenz. Überall, jederzeit. Mae tut alles dafür, die Ziele des Circle zu unterstützen, und wird erfolgreicher, als sie es sich hätte erträumen können. Um sie herum wird die Welt gläsern. Virtualität wird Realität, Geheimnis wird Lüge, Privates wird Diebstahl. Kleine Kameras überwachen einen Großteil der Bevölkerung; die Livestreams sind für jeden im Internet abrufbar. Kinder werden gechippt, damit ihre Eltern immer wissen, wann sie wo sind. Der Circle erfasst beinahe jeden Aspekt eines jeden Lebens. Geldgeschäfte, Gesundheitsdaten, Fähigkeiten, Eigenschaften. Menschen werden freiwillig und vollständig transparent. Mae auch. Und sie ist es, die den Circle vollenden wird.
Dieses Buch hat mich durch alle Buchläden verfolgt. Immer blitzte irgendwo die leuchtend rote Farbe des Covers auf. Schließlich auch an Weihnachten, unter zwei Lagen Geschenkpapier. 😉 Ich habe sofort angefangen zu lesen – und nach einem Drittel wieder aufgehört. Es ging einfach nicht. Dave Eggers, der Autor, hat mit Mae einen Charakter geschaffen, der nicht die Fähigkeit besitzt, sich selbst und andere zu reflektieren. The Circle erzählt die Geschichte einer jungen Frau, deren Gehirn gründlich gewaschen wird. Von Menschen, die vollkommene Transparenz für die Rettung der Welt halten. Eggers schafft es, immer wieder einen draufzusetzen. Wenn du denkst, es geht nicht mehr schlimmer, dann blättere einfach zwei Seiten weiter. Ich habe gleich das letzte Kapitel gelesen. In Hoffnung auf ein Happy End. Wie es ausgeht, verrate ich nicht, denn ihr sollt das Buch selbst lesen! Euch durchquälen. Den Glauben an die Menschheit verlieren, zurückgewinnen und das Buch schließlich angewidert in die Ecke peffern. Das nämlich ist die einzig gesunde Reaktion auf die (Horror-)Szenarien, die Eggers beschreibt.
Die in einer scheinbar fernen Zukunft liegen. Tun sie aber nicht.
Virtualität wird längst zu Realität. Dass soziale Netzwerke all unsere Daten speichern und damit fast vollständige Profile von uns erstellen können, ist Fakt. Apps überwachen unsere Gesundheit. Prüfen, ob wir täglich genug Wasser trinken. Kontrollieren unsere Schlafgewohnheiten (wenn wir es denn zulassen). Über Google Earth kann ich ferne Orte besuchen und mir die Sehenswürdigkeiten in 3D ansehen. GoogleMaps weiß, wo ich bin. Jeder Mensch könnte über diesen Blog erfahren, wie ich aussehe, was mich beschäftigt, warum ich meinen Auslandsaufenthalt abgebrochen habe.
Das Internet bringt 1000 Vorteile. Die aufzuzählen würde viel zu lange dauern. Nur ein paar: Vernetzung über Grenzen hinweg, leicht zugängliche Information, Datenspeicherung. Aber wir sind unvorsichtig. Denken nicht darüber nach, was wir wo veröffentlichen und über das Internet versenden, sondern tun es einfach. Vielleicht wirst du eines Tages in der Öffentlichkeit stehen und viele Menschen interessieren sich für dich. Und ein unbekannter Hacker sitzt auf seinem Sofa in Nebraska, zerpflückt deine eigentlich privaten (leicht zugänglichen) Dateien und Daten, die du längst gelöscht hast (und trotzdem noch gespeichert sind), und veröffentlicht sie, für alle sichtbar (über nationale Grenzen hinweg). Natürlich ist das überspitzt dargestellt, aber Dave Eggers hat Recht, wenn er sagt:
„Wir sind alle geblendet von den Verheißungen der Technik, den Erleichterungen, dem Zugang zu allem, wir sind blind für die Gefahren, die so winzig erscheinen im Vergleich zu den tollen Möglichkeiten.“ ²
Der erste Schritt ist, sich dessen bewusst zu werden. Überall im Internet hinterlassen wir Spuren. Big Data nennt sich das. Ich habe überlegt, ob ich den Blog aufgeben soll. Weil mir das, was Eggers beschreibt, Angst macht. Ich habe das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Ich poste auf Instagram, like auf Facebook, verschicke Nachrichten über Whatsapp. Was wird wo gespeichert, ausgewertet, weiterverwendet?
In den USA kombinierte die Firma Cambridge Analytica Big Data mit Informationen aus Psychotests einer App und erstellte Persönlichkeitsprofile von allen erwachsenen, amerikanischern Bürgern. „Wir bei Cambridge Analytica haben ein Modell entwickelt, das die Persönlichkeit jedes Erwachsenen in den USA berechnen kann.“ ³ Aber zu welchem Zweck? Nun, erstens ist fast jede persönliche Information in Amerika käuflich. Und zweitens arbeitete die Firma mit Trump zusammen, unterstützte ihn im Wahlkampf. Die Methode: Einzelne Menschen mit ihren Vorlieben, Zweifeln und Eigenschaften individuell erreichen, und nicht auf die breite Masse abzielen. „In sogenannten dark posts, das sind gekaufte Facebook-Inserate in der Timeline, die nur User mit passendem Profil sehen können, [… wurden] zum Beispiel Afroamerikanern Videos zugespielt, in denen Hillary Clinton schwarze Männer als Raubtiere bezeichnet.“ ³ Gruselig? Aber sowas von. Cambridge Analytica unterstützte übrigens auch den Wahlkampf der Bexit-Kampagne leave.eu. Eine Zusammenarbeit mit der rechtspopulistischen Partei Frankreichs „Front National“ ist wahrscheinlich.
Nun, was sollen wir mit diesen ganzen Informationen anfangen? Uns sofort von allen sozialen Netzwerken abmelden? Whatsapp löschen und wieder SMS schreiben? Aufhören, unser ganzes Leben auf Instagram zu dokumentieren? Nicht unbedingt (obwohl, letzteres wäre doch sinnvoll – denkt an die ganze freie Zeit, die ihr gewinnen und sinnvoll nutzen könntet). Aber wir sollten mehr über unsere Internet-Präsenz nachdenken. Nicht rund um die Uhr anderen unser Leben preisgeben. Denn dieses ist kostbar und – ja, so ist es – Privatsache. Es wird bald sicher einen weiteren Beitrag zu dem Thema geben, denn ich habe das Gefühl, viele Menschen verlieren die Balance und verbringen mehr Zeit im Internet als der Realität. Ich weiß schon, das Internet ist Teil unserer Realität. Aber den Tages damit zu verbringen, sich anzuschauen, was andere Menschen so machen und wo sie gerade sind, anstatt das eigene Leben zu genießen – kommt euch das nicht komisch vor? Aber wie gesagt, dazu später mehr.
Zum Schluss möchte ich noch einmal Dave Eggers zu Wort kommen lassen. Weil er ein sehr schlauer Mensch ist und die perfekten Abschlussworte für diesen Beitrag fand, bevor ich überhaupt mit dem Schreiben begonnen hatte.
„In Amerika lassen sich jede Menge Leute Chips implantieren. Freiwillig. Viele meiner Freunde tragen Gesundheitsbänder, die alle ihre Daten an die Behörden weitergeben. Alles freiwillig. Ist das nicht faszinierend? Und wir schreiten munter voran. Gestern habe ich mit jemandem gesprochen, der die Manipulation des Nervensystems erforscht. Wir haben nur so über Möglichkeiten gesprochen, und ich fragte immer: Und das ist machbar? Ja, das ist machbar, meinte er immer. Und wir leben in einer Zeit, in der alles, was machbar ist, auch gemacht wird.“ ²
So. Ich habe ein bisschen das Gefühl, das Internet mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. 😉 Hoffentlich könnt ihr aus diesem Beitrag etwas sehr Wichtiges mitnehmen: Selbstreflexion. Und jetzt schreibe ich etwas, was in Anbetracht des Themas nur ironisch gemeint sein kann, aber mein Ernst ist. Bitte teilt diesen Beitrag. Wenn ihr Lust habt. Nicht nur über das Internet, sondern persönlich mit Freunden, Bekannten, der Familie. Habt einen schönen Tag! Grüße ♥ Katinka.
In den Quellen, die ich für diesen Beitrag verwendet habe, erfahrt ihr mehr über das Thema:
¹ Eggers, Dave (2016). The Circle. 7. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Seiten 557-558.
² Interview mit Dave Eggers | http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/fuer-eine-neue-erklaerung-der-menschenrechte-der-autor-dave-eggers-im-gespraech-13089419-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3
³ Alles über die Methoden von Cambridge Analytica | https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/
5 Antworten zu “Cambridge Analytica, Big Data und das Internet | + Buchtipp”
[…] Cambridge Analytica, Big Data und das Internet | Manipulation im großen Stil? + Buchtipp […]
Liebe Katinka,
zwischen dem www und der eigenen Indivdualität stehen Mouse und Tastatur.Und die bedienen ausschließlich WIR. WIR haben die Macht über die Informationen, die wir in die Öffentlichkeit hinaus posten. Also haben ausschließlich WIR die Verantwortung. Verantwortung für die Bandbreite zwischen shitstorm und Liebeserklärungen bei den Reaktionen. WIR müssen damit klar kommen. Spätestens beim Befehl „Abschicken“.
Und wenn ich auch ein deutlicher Befürworter der persönlichen Kommunikation bin – das www fördert die Informationen zwischen Sendern und Empfängern. Wenn „man“ es verantwortungsbewusst nutzt. So wie Du. So nehme ich es zumindest wahr.
Dein Matze
So sieht’s aus. Jeder entscheidet selbst, was und wie viel er von sich preisgibt. Damit trägt auch jeder eine große Verantworung – für sich selbst. Ohne Bewusstsein für die Gefahren des Internets wird’s problematisch. Besonders das kritische Denken der Generationen, die mit unbeschränktem Internetzugang aufwachsen, sollte unterstützt (oder erst einmal in Gang gebracht) werden.
Liebe Katinka,
ich habe das Buch (bisher) nicht gelesen, aber Dein Beitrag legt es mir doch noch mal an mein Leser-Herz. Mal schauen. Auf jeden Fall ist dies ein wichtiges Thema und ich glaube es ist wie mit vielem im Leben: das Maß nicht verlieren, den Kopf angeschaltet lassen, trotz allem an den sozialen Netzwerken seinen Spaß haben und sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Ich schätze nach wie vor die Möglichkeiten, bin mir aber der Problematik durchaus bewusst. Mal schauen, wie es weitergeht und ob man irgendwann davon tatsächlich Abstand nehmen sollte?!
Danke für die Denkanstöße und ich wünsche Dir ein schönes Osterfest – und das kann ich nur tun, weil wir uns im Netz begegnet sind, was ich schön finde! 😀 –
Nicole
Liebe Nicole,
„den Kopf angeschaltet lassen“, finde ich klasse. 😉 Sich bloß verrückt zu machen bringt nicht viel – dann lieber wirklich Abstand von sozialen Netzwerken nehmen. Vielleicht wäre ein Beitrag über Möglichkeiten der „Anonymität“ im Netz auch nicht schlecht. Ich freue mich, dass du etwas mitnehmen konntest! Und finde es genauso prima, dass wir uns begegnet sind. 🙂 Frohe Ostern!